Im Kontrollwahn

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FRANKFURT |28-12-2015| Regierungspräsidium untersagt unabhängige Recherchen in neuer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge.

Der hessischen Landesregierung aus CDU und Grünen ist es gelungen, die Pressefreiheit zumindest in Teilen von Frankfurt am Main außer Kraft zu setzen. Im Landespressegesetz heißt es zwar: »Niemand darf in seinem wissenschaftlichen oder künstlerischen Schaffen und in der Verbreitung seiner Werke gehindert werden.« In Hessen wurde das Wort »niemand« nun aber, wenn es um eine für Flüchtlinge zuständige Behörde geht, durch »jeder« ersetzt. Sozialreportagen vor allem über den Umgang von Ämtern mit Armut sollen offenbar der Vergangenheit angehören.

Der Tatbestand: jW hatte in diesen Tagen einen Bericht darüber geplant, wie es Zuwanderern in der neuen Erstaufnahmeeinrichtung im Gewerbegebiet im Osten der Stadt auf dem ehemaligen Neckermann-Areal ergeht. Künftig sollen in den dortigen Räumlichkeiten 2.000 Flüchtlinge untergebracht werden, die ersten 1.000 ziehen bereits ein. Was genau vor sich geht, bleibt aber unterm Deckel. Denn das Regierungspräsidium Darmstadt unter Leitung der Regierungspräsidentin Brigitte Lindscheid (Die Grünen) diktiert, ob überhaupt, wann und wie Recherchen in hessischen Flüchtlingslagern »erlaubt« sind. Auf Anweisung von oben seien Fotoaufnahmen auf dem Gelände der Erstaufnahme nicht gestattet. »Sammeltermine« für Journalisten würden angeboten, wenn die Einrichtung besucht werden könne, so Ludwig Frölich, Landesvorsitzender des zuständigen Trägers, des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB), auf jW-Anfrage am 23. Dezember. »Ansonsten werden Sie keinen Zutritt erhalten.« Was die Pressefreiheit betrifft, fügt er hinzu, dass man gern außerhalb des Geländes mit Flüchtlingen sprechen dürfe.

Keine Recherche vor Ort, kein Überprüfen, wie Geflüchtete und an anderer Stelle Obdachlose untergebracht, wie ihre Lebensverhältnisse sind. Letztlich heißt das: vorbei die Zeiten, als Redaktionen entschieden, zu welchem Zeitpunkt welches Thema in welcher Form an eine größere Öffentlichkeit gebracht wird. Die perfide Begründung für die willkürliche Einschränkung lautet: Sie solle dem Schutz der Privatsphäre dienen. Wie es um die bestellt ist, lässt sich einem Bericht der Frankfurter Rundschau entnehmen, der nach einem der besagten »Sammeltermine« für Journalisten im noch leeren Gebäude der Erstaufnahmeeinrichtung vor kurzem entstand. Darin hieß es, dass die meisten Geflüchteten sich »mit bis zu 101 Mitbewohnern im Großraumbüro arrangieren müssen«.

Ein weiteres Argument für die Abweisung von Journalisten lautet: Das Personal sei an den Feiertagen gestresst. Dieter Ohl, Sprecher des Regierungspräsidiums Darmstadt, berief sich zudem gegenüber dieser Zeitung auf die »Fürsorgepflicht« gegenüber den Flüchtlingen. Auf die Frage, ob sie nicht selbst gefragt werden sollten, ob und mit wem sie reden möchten, lautete die Antwort: Es gehe nicht an, »Unruhe zu verbreiten, ohne dass wir wissen, wer was machen will«. Bei einem weiteren »Sammeltermin für die Presse« seien Frauen angesprochen worden, die, obwohl zunächst zum Gespräch bereit, dann aber fortgelaufen seien. Auf den Einwand, es verwundere nicht, dass Geflüchtete für staatlich überwachte Gespräche mit der Presse nicht zu begeistern seien, antwortete er: Kritik daran habe es bereits gegeben. Eine »unbegleitete Reportage« sei nicht mehr möglich. »Es ist bei uns so geregelt, dass wir das nicht mehr machen.«

Annette Ludwig von der Initiative »Welcome Frankfurt« hat selber »leidvolle Erfahrungen« mit derlei Abschottungsstrategien gemacht. Nachdem staatliche Stellen im Sommer zunächst komplett versagt und die Flüchtlingshilfe einzig freiwillig engagierten Aktivisten allein zugemutet hatten, hätten sie später deren vielgelobte »Willkommenskultur« durch »amtlichen Kontroll- und Überwachungswahn« ersetzt: »Wir dürfen die Massenunterkünfte überhaupt nicht betreten, müssen froh sein, nicht vor den Einrichtungen davongejagt zu werden.« Es fehle an Transparenz, Aufklärung und Kooperation. Die Lage sei so prekär, dass die hierfür Verantwortlichen Einblicke der Öffentlichkeit zu Recht fürchteten.

Von Gitta Düperthal/JW

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